Mein Leben mit der Depression meines Mannes
Gastbeitrag von Sinah
Mein Mann leidet an einer Depression. Was 2012 als leichte Depression diagnostiziert wurde, hat sich mittlerweile zu einer schweren Depression gemausert – mit Suizidgedanken, ohne Psychosen.
Zurzeit gleicht unser gemeinsames Leben einem Drahtseilakt. Wir versuchen jeden Tag, eine Balance zu finden und wünschen uns einfach Normalität. Doch die Depression bestimmt unseren Alltag. Mein Mann neigt grundsätzlich dazu, sich selbst zu überfordern, um die Erwartungen zu erfüllen, die er selbst an sich hat. Erwartungen, von denen er denkt, dass sie von außen kommen, die aber auch in ihm selbst verwurzelt sind. Er möchte niemanden enttäuschen. Er hat wahnsinnige Angst davor, nicht mehr geliebt zu werden, wenn er jemanden enttäuscht und die Erwartungen der anderen nicht erfüllt.
Er hat Angst davor, dass ich gehen könnte.
Und manchmal habe ich auch Angst, dass ich irgendwann gehe.
Denn, ohne das Leid meines Mannes und aller Betroffenen schmälern zu wollen: Ich leide ebenfalls. Ich leide unter der Doppel- und Dreifachbelastung, die durch die Depression an mir hängt. Ich leide, wenn ich meinen Mann so sehe. Gebrochen, verletzt, verletzlich. Ich leide, wenn ich sehe, wie schwer ihm jegliche Entscheidungen fallen. Entscheidungen, die ihm helfen könnten. Entscheidungen, die ihn voran bringen könnten. Aber auch alltägliche Entscheidungen. Die Entscheidung, ob er jetzt eine Pause braucht oder nicht. Ob er die Kraft hat, im Haushalt zu helfen. Die Entscheidung, ob wir ein Zimmer renovieren können. Jede Entscheidung verlangt ihm ungeheuer viel Kraft ab. Und mir verlangt es eine wahnsinnige Geduld ab, jeden Entscheidungsprozess abzuwarten, diese Ungewissheiten auszuhalten und den Kopf über Wasser zu halten. Geduld, die mir im Alltag oft fehlt. Geduld, die ich außerdem in meinem Beruf als Lehrerin und als Mutter eines Dreijährigen brauche. Und manchmal weiß ich einfach nicht, woher ich diese Geduld noch nehmen soll.
Wie man sich als Angehöriger bei einer Depression fühlt
Warum schreibe ich diese Zeilen? Es fühlt sich an wie Jammern auf hohem Niveau. Ich habe einen Mann, einen Job und ein wundervolles Kind. Um meine Erzieherin aus Kindergartenzeiten zu zitieren, die ich kürzlich auf einem Geburtstag traf, ich habe „wirklich alles erreicht“.
Und ja, das habe ich. Und doch verlangt der Alltag mit einem geliebten Menschen, der an einer Depression leidet, viel ab.
Ich schreibe diese Zeilen, weil ich weiß, wie man sich als Angehörige fühlt. Wenn der Partner, das Kind, ein Elternteil oder gar beide Eltern an einer Depression (oder auch anderen psychischen Krankheiten) leiden, steht die Behandlung und Fürsorge für die Betroffenen oft an erster Stelle. Mit Recht, denn auch heute unterliegen psychische Krankheiten noch oft einer Stigmatisierung. Doch die Betroffenen brauchen Hilfe und das am besten zeitnah und natürlich von einem professionellen Team. Wie schwierig es ist, sich Informationen über Therapieformen, Therapeuten, Psychiater zu besorgen und die meist viel zu lange Wartezeit zu überbrücken, wo es einem doch bereits an Antrieb für das Alltägliche fehlt, mag ich mir nicht anmessen, beurteilen zu können. So vielfältig wie die Diagnosen selbst gestaltet sich auch die Therapie. Neben vielfältigen ambulanten Therapieformen gibt es natürlich auch stationäre und teilstationäre Angebote. Hilfe?!
Wenn die angemessene Betreuung und Versorgung des Betroffenen sichergestellt ist, lohnt es aber dennoch, den Blick zu weiten. Was ist mit der Familie? Was brauchen sie? Welche Hilfe brauchen die Angehörigen.
Womit wir zurück sind bei der Frage, warum ich diesen Text schreibe.
Ich schreibe diesen Text, weil ich mich allein gelassen fühle. Weil ich das Gefühl habe, dass wir nicht nur einen großen Mangel bei der Versorgung psychisch erkrankter Personen haben, sondern einen noch größeren Mangel bei der Unterstützung ihrer Angehörigen. Weil ich in den letzten Monaten mehr als einmal das Gefühl hatte, all das nicht alleine stemmen zu können. Kindererziehung, Job, Haushalt. Mann stationär im Krankenhaus. Mist. Ich wusste gar nicht, wo mir der Kopf steht. Mit wem ich reden soll. Ich konnte mich vor lauter Problemen und Gejammer selbst kaum ertragen.
Was mir gefehlt hat ist der Austausch mit anderen Betroffenen. Jemand, der mir sagt, dass es normal ist, nicht zu wissen, wie man das nur schaffen soll. Dass sich das Durchhalten lohnt. Dass es okay ist, im Moment viel zu jammern.
Aber auch seitens der Klinik hätte ich mir mehr Unterstützung gewünscht. Denn wie so oft gilt auch hier die Lebensweisheit „information is power“. Informationen über das Fortschreiten der Therapie, über die weiteren Schritte nach dem Klinikaufenthalt, über mögliche Gestaltungen in beruflicher und therapeutischer Hinsicht bekam ich keine. Vieles davon wurde sicherlich mit meinem Mann besprochen. Doch gerade zu dieser Zeit, mitten in der schwersten depressiven Episode seines Lebens, klagte er oft über Konzentrationsschwäche und Vergesslichkeit. Einige Informationen, die für mich möglicherweise wichtig gewesen wären, sind dadurch nicht bis zu mir durchgedrungen. Auch hätte ich das Bedürfnis gehabt, meine Sicht der Dinge zu der Therapie beizutragen. Dazu waren die zwei Sitzungen, die wir als Paar hatten, schlichtweg zu kurz.
Wie Angehörige bei Depression helfen können
Damit dieser Text nicht ausartet in ein endloses Gejammer voller „hätte, hätte, Fahrradkette“, möchte ich auch noch ein paar Tipps geben. Denn auch wenn in der Zeit des Klinikaufenthaltes manches suboptimal gelaufen ist, habe ich dennoch auch Zuspruch erfahren dürfen und viel über mich gelernt. Auch darüber, was ich beim nächsten Mal anders machen würde.
Falls du also gerade in der Situation bist, dass ein naher Angehöriger an einer psychischen Krankheit erkrankt ist, findest du vielleicht in den nun folgenden Punkten Anregungen und Tipps, wo du dir Hilfe und Unterstützung holen kannst:
Offenheit gegenüber der Depression #endthestigma
Wie ich bereits weiter oben schrieb, sind in vielen Bereichen der Gesellschaft psychische Krankheiten nach wie vor stigmatisiert und tabuisiert. Um dagegen anzugehen, hilft es meistens, mit gutem Beispiel voran zu gehen. Ich habe deutlich gespürt, dass es leichter wurde, über die Depression meines Mannes zu sprechen, je offener ich selbst damit umging. Denn genauso wie sich niemand für eine Grippe schämt, muss sich niemand für eine Depression schämen. Hat man sich ja schließlich auch nicht gewünscht. Natürlich habe ich gefiltert, wer wie viel Einblick in mein Leben bekam. Mein Chef muss nicht wissen, dass mein Mann Suizidgedanken hat. Doch habe ich meinem Chef mitgeteilt, dass ich, bedingt durch den Klinikaufenthalt meines Mannes, derzeit alleine für die Kindesbetreuung verantwortlich bin und dies für mich mit einigen Anstrengungen verbunden ist.
Genauso wichtig ist es, mit Freunden und der restlichen Familie offen über die Situation zu reden und um Hilfe zu bitten. Ich habe von allen Personen, mit denen ich gesprochen habe, stets Verständnis, Anerkennung und Respekt für meine Situation erfahren. Je offener wir über unsere Situation und die Krankheit unseres Angehörigen kommunizieren können, desto eher kann unser Umfeld reagieren und uns nach Möglichkeit unterstützen und entlasten.
Selbsthilfegruppen für Angehörige bei Depression
In nahezu allen großen und vielen kleinen Städten gibt es Selbsthilfegruppen für Angehörige psychisch Erkrankter. Mit einer kurzen Google-Suche lässt sich schnell eine Gruppe in der Nähe finden, beispielsweise über https://www.bapk.de/angebote/selbsthilfenetz-psychiatrie/suche.html. Dann einfach beim nächsten Treffen vorbei schauen und reinschnuppern. Auch in sozialen Netzwerken finden sich Gleichgesinnte. Online Angebote wie beispielsweise https://depression.aok.de/zum-familiencoach-depression/ der AOK können hilfreich sein, wenn sich keine passende Gruppe finden lässt.
Selbstfürsorge für Angehörige
Im stressigen Alltag vergessen wir oft, uns um uns selbst zu kümmern. Was bei meinem Mann mitverursachend für die Verschlimmerung seines Zustandes war, hat auch bei mir lange Zeit für schlechte Stimmung gesorgt: der Mangel an Selbstfürsorge. Sei es eine bewusste Auszeit für Meditation, ein langes Telefonat mit der besten Freundin, ein gemütliches Bad am Abend, wenn das Kind im Bett ist, oder, wenn möglich, ein Tag zum Ausspannen alleine oder mit einer Freundin beim Wellness. Ich suche mittlerweile in meinem Alltag nach Zeitfenstern für kleinere und größere Auszeiten vom Alltag und plane mir diese bewusst ein. Ja, ich weiß, dass die innere to-do-Liste ständig anklopft. Aber jedes noch so saubere Haus oder der selbstgebackene Kuchen bringen niemandem was, wenn man irgendwann selbst einen Burnout hat. Also, lass die Wäsche liegen, roll die Yogamatte aus und nimm dir Zeit für dich und deine Entspannung.
Therapie oder Coaching gegen die Depression und für die Partnerschaft
Bei besonders schweren Fällen, die den Angehörigen viel abverlangen, kann es sinnvoll sein, auch selbst therapeutische Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Auch hier sind die Möglichkeiten vielfältig, neben „klassischer“ Psychotherapie kann sich auch ein Blick auf Heilpraktiker für Psychotherapie, Kunsttherapie, Seelsorge, Coachings oder Online-Angebote lohnen. Wenn die Partnerschaft unter der psychischen Erkrankung stark leidet, lohnt sich eine Paartherapie, sobald der Partner wieder stabil ist. Auch die eigenen Kinder sollte man nicht aus dem Blick verlieren, denn auch die leiden oftmals stark unter der belastenden Situation. Es gibt Kinder- und Jugendpsychotherapeuten, die in Gesprächen mit dem Kind vieles aufarbeiten können. Infos dazu bekommst du bei deinem Hausarzt.
Ich hoffe, mein Text konnte einen kleinen Einblick in mein Leben als Angehörige geben. Zu wissen dass man nicht alleine mit der Last ist, wenn der Partner an einer psychischen Störung leidet, hat mir geholfen, diese Last besser zu schultern. Das Gefühl, dass da noch andere Menschen sind, die ähnliches durchmachen, die verstehen, die genauso fühlen, kämpfen, leiden, weinen wie ich, aber die, genauso wie ich, jeden Tag wieder aufstehen und Seite an Seite mit ihren Angehörigen diesen steinigen Weg gehen, hat mir geholfen. Und hilft mir immer noch.
Also stehe ich auf, wische Schweiß und Tränen aus den Augen, klopfe den Staub von den Kleidern und helfe meinem Mann, stütze ihn auf diesem steinigen Weg aus dem tiefen Tal seiner Depression.
Depression is a bitch!
Sinah
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