Die 5 Säulen des Ikigai


Du hast bestimmt von Ikigai gehört, wenn du meiner Arbeit schon länger folgst. Ikigai ist ein japanisches Wort, das im Deutschen oft als „der Grund, morgens aufzustehen“ beschrieben wird. 

Du kannst dein Ikigai als deinen ganz individuellen Sinn des Lebens verstehen. Und damit ist sowohl das Leben im Großen und Ganzen als auch das tägliche Leben, sprich der Alltag, gemeint. In Japan geht es nämlich nicht nur darum, ein sinnvolles Leben zu verbringen, sondern jeden Tag so zu gestalten, dass er nicht verschwendet ist. Demzufolge hast du nicht nur ein einziges Ikigai, das dir erklärt, warum du auf dieser Welt bist. Du hast viele verschiedene, sogenannte Ikigai-Quellen1 in deinem Alltag um dich herum, die dein Leben im Kleinen (und manchmal auch im Großen) bereichern.

Um Ikigai zu haben, musst du weder besonders erfolgreich in deinem Beruf sein, noch viel Geld verdienen oder ausschließlich Dinge im Leben tun, die Spaß machen. Das oben stehende Diagramm ist fehlleitend, trotzdem ist es in Deutschland weit verbreitet. Mehr über dieses Diagramm und seinen Ursprung findest du in diesem Blogpost.

Ikigai, wie es in Japan verstanden wird, entsteht vielmehr durch ein Gefühl von Sinnhaftigkeit, das du in den kleinen Alltagsdingen findest. 

• Das kann ein Gefühl von Wärme sein, wenn ein geliebter Menschen durch die Tür tritt. 

• Die Aufregung vor einer großen Reise, die du schon immer antreten wolltest. 

• Das stolze Gefühl, wenn du eine wichtige Aufgabe gut betätigt hast.

• Dankbarkeit für die Unterstützung deiner Familie bei deinem Umzug in eine neue Stadt. 

• Das bittersüße Gefühl des Abschieds, wenn du die letzte Seite deines Lieblingsbuches erreicht hast oder die letzte Folge deiner Serie schaust.

Das alles kann Ikigai sein. 

Die 5 Ikigai-Säulen

Um tiefer in das Thema einzusteigen, möchte ich dir in diesem Post die fünf Säulen des Ikigai vorstellen. Dieses „Ikigai-Modell“ wurde von dem Neurowissenschaftler und Autoren Ken Mogi entwickelt. In seinem Buch Ikigai — Die japanische Lebenskunst beschreibt er jede der fünf Säulen ausgiebig und erzählt passend dazu anschauliche Geschichten aus seiner Heimat Japan. Meiner Meinung nach ist Ken Mogis Buch ein interessanter und leicht verständlicher Einstieg in das Ikigai-Thema. 

Die fünf Säulen des Ikigai bilden laut Ken die Grundlage der achtsamen japanischen Lebensweise und können Menschen auf der ganzen Welt zur Orientierung und Hilfestellung dienen, um das eigene Ikigai zu ergründen. Das heißt, dass du nicht in Japan aufgewachsen sein musst, um deinen Lebenssinn auf japanische Art und Weise auszuleben. 

Es ist wichtig zu beachten, dass die Säulen in keiner Hierarchie zueinander stehen, sondern dass man sie gleichzeitig nebeneinander betrachten kann — anders als beispielsweise bei der bekannten Bedürfnispyramide von Maslow. 

Die fünf Säulen bieten einen einfachen Einstieg in das Ikigai-Verständnis, gleichzeitig erfassen sie nur einen Teil von dem, was dieses kleine, japanische Wort zu bieten hat.
Wenn du mehr über das japanische Ikigai wissen willst um deinen Alltag gesünder zu gestalten, solltest du bei einem meiner Ikigai-Kurse dabei sein oder ins Einzelcoaching kommen. Ich freue ich, dich ein Stück auf deinem Weg zu begleiten.

Ikigai-Säule 1 – Klein anfangen 

Oft denkst du, dass große Veränderungen oder Ziele auch große erste Schritte von dir erfordern. Dabei ist es genau andersherum: Ken Mogis erste Säule des Ikigai erinnert dich daran, dass alles mit kleinen Schritten beginnt. Es geht nicht darum, dein Leben von heute auf morgen komplett umzukrempeln, sondern darum, deine großen Ziele in kleine, machbare Handlungen einzuteilen. Außerdem ist jede einzelne Handlung genauso wertvoll wie die letztendliche Erreichung des Ziels. 

Eigentlich kannst du jeden Tag klein anfangen. Wie ein Koch, der täglich jede Kleinigkeit an der Zubereitung seines Gerichts anpasst mit dem Ziel, am Ende eine Art Perfektion2 zu erlangen. Er schenkt jedem einzelnen Schritt der Zubereitung die gleiche Aufmerksamkeit; vom Kauf der frischen Zutaten früh morgens auf dem Markt über das akkurate Zuschneiden dergleichen bis hin zum Anrichten auf dem Teller. Stets die freudige Reaktion des Gastes im Sinn, durchläuft der Koch alle Schritte nacheinander und ist bei jedem einzelnen Schritt mit allen Sinnen dabei, ohne zu sehr über den nächsten nachzudenken. Das erlaubt ihm ein gewisses Maß an Flexibilität und Dynamik.

japanischer Koch beim achtsamen Zubereiten einer Mahlzeit, im Flow

„Es spielt keine Rolle, wie langsam du gehst, solange du nicht stehen bleibst.“ – Konfuzius

Wenn du lernst, klein anzufangen, beginnst du den Weg zu schätzen – vielleicht sogar zu genießen – und auch deine kleinen Erfolge zu feiern. Du nimmst dir viel vom inneren Druck, etwas sofort können und erledigen zu müssen oder besonders schnell an deinem Ziel anzukommen. Diese Herangehensweise schützt dich vor Überforderungen, Ausbrennen oder Verlust von Leidenschaft und Kreativität. 

Ikigai-Übung: Die 1-Minuten Regel

Diese Säule kannst du wunderbar mit der 1-Minuten-Regel üben. Hierbei nimmst du dir eine Aufgabe vor, die du schon länger anfangen möchtest. Eine Aufgabe, an die du dich noch nicht herangetraut hast, weil sie groß und überwältigend ist.
Widme dich ohne Druck dieser Sache nur eine Minute deines Tages. Die Idee dahinter ist, dass die Hemmschwelle sinkt, wenn du nur eine Minute Zeit investierst. Häufig wirst du merken, dass du nach dieser Minute sogar weitermachen möchtest.

Die Welt mit Kinderaugen sehen

Wenn du dich mit den fünf Ikigai-Säulen beschäftigt, stößt du immer wieder auf den Vergleich mit dem jugendlichen oder kindlichen Wesen. Und es stimmt: Kinder betrachten die Welt und sich selbst ganz anders, als du es als erwachsener Mensch tust. Zum Beispiel finden Kinder an einem Herbstblatt, das auf dem Boden liegt, eine unaufhörliche Freude. Sie zeigen es überall begeistert herum und teilen ihre Freude gerne mit anderen. Als Erwachsene*r nimmst du ein Herbstblatt vielleicht nur kurz aus dem Augenwinkel wahr oder vielleicht auch gar nicht.

Ein Kind hält ein Herbstblatt in der Hand und zeugt es mit Freude. Es sind die kleinen Dinge, die das Leben ausmachen. Das ist ikigai.

Ken Mogis Aufforderung lautet: Sie die Welt öfter mit Kinderaugen! Ich als Psychologin stimme ihm zu. Wenn du mit einem offenen, unvoreingenommenen Geist an Dinge herangehst, hast du weniger Stress, weil du dich frei von bestimmten Erwartungen machst. Du erlebst die Welt mit mehr Spaß, Neugierde und Wissenshunger.
Das bedeutet nicht, dass du keine erwachsene Verantwortung übernehmen solltest. Auch das ist wichtig. Finde deine goldene Mitte.

Ikigai-Säule 2 — Akzeptieren, was ist und Loslassen 

Die zweite Säule fordert dich auf, von Dingen loszulassen, die dein Ikigai blockieren. Damit sind unter anderem zu hoch gesteckte Ziele und idealistische Erwartungen gemeint. Auch das Loslassen vom eigenen Ego (Status, Wissen, Erfahrung, Herkunft…) ist damit gemeint.

Wir alle wissen, dass das Leben nicht immer perfekt und nach Plan verläuft. Statt dich also darüber zu ärgern, dass Dinge anders laufen, als du es dir vorgestellt hast, geht es hier darum, den Fluss des Lebens zu akzeptieren. Vertraue darauf, dass sich die Dinge so entwickeln, wie sie es sollen, in ihrem eigenen Tempo. 

Vielleicht kennst du jemanden, der nach einer beruflichen Krise plötzlich einen ganz neuen Weg eingeschlagen hat. Vielleicht hat diese Person eine Leidenschaft wieder entdeckt, die vorher im Alltag untergegangen ist. Indem er oder sie akzeptiert hat, dass der alte Plan nicht funktioniert, konnte etwas Neues entstehen. Manchmal zeigt uns das Leben den richtigen Weg, wenn wir aufhören, krampfhaft an einem Alten festzuhalten.

Wie bereits erwähnt, geht es darum, sich von (eigenen oder gesellschaftlichen) Bewertungen und Erwartungen abzugrenzen. So schreibt Ken Mogi in seinem Buch: „Ein sorgloses Kind braucht kein Ikigai zum Leben. Dieses Kind ist noch nicht mit einer sozialen Definition seines Ichs belastet, noch nicht an einen bestimmten Beruf oder sozialen Status gebunden.“ 

Die Dinge sind immer in Bewegung. Deshalb kommt es manchmal gar nicht so sehr darauf an, wo du gerade stehst, sondern warum du gerade hier stehst.
Was blockiert dich?
Warum fühlst du dich (nicht) motiviert?
Welche äußeren und inneren Faktoren kannst du kontrollieren?
Und was kannst du wirklich nicht kontrollieren und musst dafür Akzeptanz finden? 

Ikigai-Übung: Zoom out!

Etwas loszulassen ist manchmal schwer, keine Frage. Doch erinnere dich an Säule Nummer 1: klein anfangen. Es reicht für den Anfang, wenn du mal aus deiner jetzigen Situation heraus-zoomst.

Setze dich an einen ruhigen Ort, an dem du nicht gestört wirst. Schließe die Augen und atme ein paar Mal tief durch. Stelle dir deine aktuelle Situation vor – wie du gerade hier sitzt mit deinen täglichen Aufgaben und Herausforderungen. Du kannst es kurz wie einen Film ablaufen lassen. Jetzt stelle dir vor, dass du langsam von dieser Szene wegzoomst. Zuerst siehst du dein Zimmer, dann die ganze Unterkunft, in der du dich befindest. Zoome weiter, bis du dich selbst von oben siehst – und noch mehr, bis du deine Stadt, dein Land und schließlich den ganzen Planeten vor dir hast. Von dieser Perspektive aus ist die jetzigen Situation nur ein kleiner Teil eines riesigen Ganzen. Beobachte, wie relativ klein und vorübergehend die Dinge erscheinen, die dich gerade beschäftigen.

Du wirst nach einer Weile bemerken, wie sich deine Gefühle in dieser neuen Perspektive verändern. Du kannst nach der Übung eine kleine Selbstreflexion anschließen und überlegen, was in deinem Leben wirklich wichtig ist und was jetzt weniger drängend erscheint.

Reflexion
Denke darüber nach, was sich verändert hat, wenn du auf dein Leben in diesem größeren Kontext schaust. Was erscheint jetzt weniger drängend? Was könnte deine Aufmerksamkeit wert sein?

P.S. Wenn ich von Akzeptanz spreche, meine ich nicht, alles gutzuheißen. Akzeptanz ist nicht gleichzusetzen mit Resignation oder Toleranz von Ungerechtigkeit. Hier ist eine besondere Form der Akzeptanz gemeint, bei der du nicht gegen das Unvermeidliche kämpfst oder es wegignorierst. Du wendest deine Energie dafür auf, aktiv auf die Umstände zu achten, die noch funktionieren und diese zu fördern (jap. るが „Arugamama“3).

Ikigai-Säule 3 — Harmonie und Nachhaltigkeit 

Deine Zufriedenheit wird oft von deinen Beziehungen beeinflusst – sei es mit deinem Freundeskreis, der Familie oder Kolleg*innen. Ken Mogi benutzt dafür den Begriff Harmonie (japanisch 和 “wa”). Diese Art der Harmonie beschreibt das subjektive Erleben einer Ausgewogenheit im Alltag und fordert dich auf, achtsam mit dir selbst und deiner Umgebung zu sein. 

Diese Säule ist ein Sinnbild für die japanische Gesellschaft und ihre Lebensauffassung. Die Menschen in Japan streben nach Harmonie mit sich selbst (Selbstakzeptanz), mit ihrem sozialen Umfeld (große gegenseitige Unterstützung und Gastfreundlichkeit) und mit der Natur. Letzteres lässt sich hervorragend in den japanischen Gärten erkennen. Sogar in den Megastädten Tokio und Osaka habe ich auf meinen Reisen zahlreiche, fantastisch gepflegte Garten- und Tempelanlagen entdeckt, die es dir ermöglichen, dem städtischen Trubel zu entfliehen, innezuhalten und durchzuatmen. 

„Zur Beruhigung müssen wir als General Manager des Universums zurücktreten.“ – Larry Eisenberg

Es ist die Idee eines inneren Friedens sowie die Ablegung egoistischer Denkmuster, die die Menschen in Japan als Erklärung für ihre Zufriedenheit benennen. Im Gegensatz dazu strebt das westliche Mindset zu oft nach einem “Ich komme an erster Stelle” und einem “Höher-Schneller-Weiter”. Diese eher selbstbezogenen Motive arten oft in destruktiven Stress, Isolation oder im schlimmsten Fall in Vereinsamung aus. Denn wer sich ständig nur selbst und das eigene Leben optimieren will, verliert den Bezug zu den Menschen und der Welt um sich herum.

Ikigai-Übung: in guter Gesellschaft

Du musst das Leben nicht allein bestreiten. Wie schulst du den Blick über dein eigenes Ego hinaus?
Schließe dich einer Gruppe an – egal wie klein oder groß. Das kann ein Buchclub in der Nachbarschaft sein, ein Töpferkurs, eine Online-Liga oder ein Ehrenamt.

Ikigai-Übung: Waldbaden

Mir als Stadtkind ist besonders wichtig, mich mit der Natur zu verbinden.
In Japan ist das „Waldbaden“ (jap. 森林浴 „shinrin yoku“) schon lange bekannt und wird dort sogar als Therapie angeboten4. Meine Gastmutter in Tokio hat es mir gezeigt, sie nannte es liebevoll „Friedensspaziergang“.

Bei einem solchen Spaziergang gehst du mit offenen Augen und Ohren durch die Natur. Du schaust dir alle Details der Vegetation an. Du hörst den Wind, wie er die Blätter zum rascheln bringt. Vielleicht gibt es sogar einen Fluss, in den du deine Hand halten kannst. Oder du streichst sanft über die Rinde eines Baums. Spüre genau hin und lass die Umwelt auf dich wirken.

Da ich keinen Wald fußläufig zur Verfügung habe, versuche ich, regelmäßig im städtischen Park zu „baden“. Das ist natürlich nur bedingt vergleichbar mit dem authentischen Waldbad. Doch es geht ja um die kleinen Schritte, deshalb ist das in meinen Augen ein wertvoller Kompromiss 😉

Ikigai-Übung: Meditationen

Wenn ich nach einem langen Arbeitstag überwältigt bin, entspanne ich bei einer kurzen, geführten Meditationen. Meditationen und anderen Achtsamkeitsübungen (u.a. Atemübungen) gibt es in vielen Formen – kurz oder lang, geführt oder ohne Sprecher*in, mit Musik oder ohne…
Du musst dabei nicht stillsitzen, sondern kannst dich zur Meditation auch bewegen. Probier’s zum Beispiel mit einer Geh-Meditation. Da gibt es Apps, die dich dabei unterstützen, z.B. Calm.

Meditationen sind ein guter Anfang, um dich als Teil deiner Umgebung wahrzunehmen. Möglicherweise kannst du das sogar auf einer Bank in einem japanischen Garten tun.

japanischer Garten mit Kirschblüte, Hanamie, das Bestaunen der Blüte

Ikigai-Säule 4 — Freude an kleinen Dingen 

Hast du schon einmal ganz bewusst innegehalten, um die Schönheit eines Sonnenuntergangs zu bewundern? Oder hast du den feinen Geschmack von frischem Kaffee am Morgen genossen ohne gleichzeitig auf dein Handy zu schauen? 

Genau darum geht es bei dieser Ikigai-Säule. Es ist die Kunst, im hektischen Alltag innezuhalten. Um…

• dem Regen zu lauschen, der gegen ein Fenster prasselt,

• das Lächeln einer fremden Person zu erwidern, der du beim Parkspaziergang begegnest,

• deinen Lieblingssong im Auto laut aufzudrehen

• oder das Gefühl der Sonnenstrahlen auf deinem Körper ganz bewusst wahrzunehmen. 

Du merkst, die kleinen Freuden sind die vielen unscheinbaren Momente, die wir alle im Alltag erleben. Diesen Kleinigkeiten schenken wir in der Regel zu wenig Beachtung. Das ist nicht verwunderlich, denn schließlich muss das menschliche Gehirn ständig unzählige Sinneseindrücke verarbeiten. Dabei bekommen die Momente, die außergewöhnlich und eben nicht alltäglich sind, automatisch mehr Bedeutung. Doch es kann auch anders gehen!

Versuche, deinen Fokus bewusst auf alltägliche Dinge zu lenken, die dir ein wohliges Gefühl geben. Das kann die fünfminütige Yoga-Sequenz am Morgen sein, das Telefonat mit der besten Freundin oder dem besten Freund, die Kuscheleinheit mit deinem Haustier oder das Versinken in einem guten Buch sein. Dabei ist wichtig, dass du diese Dinge jeden Tag ohne große Mühe erleben kannst. So findest du sogar an den richtig blöden Tagen etwas, das dir ein gutes, wohliges Gefühl gibt. 

Vorsicht vor toxischer Positivität

Nicht jedem Menschen gelingt es, eine große Freude aus den kleinen Dinge zu ziehen. Tatsächlich ist diese Begeisterungsfähigkeit zum Teil genetisch vorbestimmt5. Auch die Art und Weise, wie du aufwächst, spielt eine tragende Rolle. Du solltest dich also nicht zwingen, unbedingt etwas Positives zu erkennen und euphorisch durch den Tag zu hüpfen, wenn du dich nicht danach fühlst. Diese Form von toxischer Positivität6 führt eher dazu, dass du dich noch frustrierter fühlst, als du ohnehin bereits bist.

Wichtig ist: Deine Aufmerksamkeit ist trainierbar und je mehr du versucht, bewusst auf kleine witzige, entspannende oder interessante Kleinigkeiten in deinem Alltag zu achten, desto größer ist die Chance, dein Wohlbefinden zu stärken – auch an weniger guten Tagen. Und mit Wohlbefinden ist nicht unbedingt Freude im Sinne der Euphorie gemeint. Es sind eher die Gefühle von Entspannung, Ausgeglichenheit und Harmonie, auf die es ankommt.

Den Alltag spielerisch zu betrachten und von Winzigkeiten absolut hingerissen zu sein, ist wieder eine eher kindhafte Eigenschaft. Es scheint, als verlerne man diese Eigenschaft auf dem Weg zum Erwachsensein. Die gute Nachricht ist: Was du mal konntest, kannst du auch wieder. Beherzige dabei die zweite Ikigai-Säule und lasse von der Sorge los, was andere von dir denken. So kannst du einfach inmitten einer hektischen Fußgängerzone stehen bleiben, um dir eine Blume am Wegesrand ganz genau anzuschauen und ihren Geruch wahrzunehmen.

Ikigai-Übung: Easy Journaling

Wie erlangst du also die Fähigkeit, dich mehr auf die schönen kleinen Dingen im Alltag zu konzentrieren? Für den Anfang kannst du dir jeden Tag mindestens drei kleine Dinge aufschreiben, die dich zum Schmunzeln gebracht haben, die dich entspannt haben oder die du interessant fandest. Dafür kannst du ein kleines Notizbuch, deine Notiz-App auf dem Handy oder ein Journal nutzen. Lies dir deine Listen nach einer Woche noch einmal durch. Du wirst stets neue Momente finden, die dir den Tag versüßt haben, die du normalerweise übersehen hättest. 

Ikigai-Säule 5 — Im Hier und Jetzt leben 

Die fünfte Säule des Ikigai soll dich daran erinnern, dass das Leben immer im gegenwärtigen Moment stattfindet. Wie die meisten Menschen neigst du oft dazu, über die Vergangenheit nachzugrübeln oder dir Sorgen um die Zukunft zu machen. Dabei ist das Einzige, was du wirklich erleben und teilweise beeinflussen kannst, das Jetzt. 

Wie oft hast du dich schon dabei ertappt, über Dinge zu grübeln, die längst vorbei sind oder möglicherweise nie passieren werden? Was wäre, wenn du dich stattdessen auf das konzentrierst, was gerade vor deinen Augen passiert?

Diese Säule ist quasi die logische Konsequenz der vorherigen. Manchmal wirkt sie wie die Grundlage und manchmal wie das Ergebnis. So schlägt Mogi in seinem Buch vor, “Musik zu spielen, ohne dass jemand zuhört, ein Bild zu malen, das niemand sehen wird oder eine Geschichte zu schreiben, die keiner lesen wird”.

Komm in den Flow

Etwas im Hier und Jetzt zu tun und zu erleben, ohne primäre Zielorientierung, schenkt dir die Freude und den Genuss des Augenblicks. Ken betont immer wieder, wie wichtig dieser sogenannte „Flow-Zustand“ ist. Damit ist ein aktiver, kreativer Zustand gemeint, der von purer Existenz im Moment geprägt ist. Der Zustand entsteht als goldene Mitte zwischen Überforderung und Langeweile und ist somit der ideale Geisteszustand, um produktiv und kreativ zu sein. Das besagt zumindest die „Flow-Theorie“, die von dem Forscher Mihály Csíkszentmihályi ins Leben gerufen wurde.

Die Arbeit der japanischen „Shokunin“ (職人, dt. (Kunst-)Handwerker*in) ist ein angemessenes Beispiel für den Flow-Zustand. In keinem anderen Land konnte ich bisher eine so starke Aufmerksamkeit und Liebe zum Detail bei der schaffenden Arbeit beobachten. Es ist wie ein einstudierter Tanz, wie der Koch die Mahlzeiten auf dem Teller anrichtet oder wie die Gastgeberin eines Teehauses den Matcha zubereitet. Beim Zuschauen der Shokunin verfiel ich fast selbst in eine Art Hypnose.

Wie fühlt sich ein Flow-Zustand an?
Ablenkungen oder Langeweile sind im Flow-Zustand unmöglich, denn du konzentrierst dich nur auf das, was dein Körper gerade tut. Belohnung oder Anerkennung für das, was du tust, spielen ebenfalls keine Rolle, denn deine Motivation sprudelt ganz natürlich von innen aus dir heraus.

Sicherlich kennst du diesen Zustand, wenn du beim Gespräch mit deinen Freund*innen jegliches Zeitgefühl verlierst. Oder wenn du auf einem Konzert in der Menge tanzt. Vielleicht bist du sogar jetzt im Flow und merkst, wie sehr du in diesem Blogpost vertieft bist.

Wichtig zu erwähnen ist, dass der Flow-Zustand von jedem Menschen unterschiedlich erlebt wird. Manchmal kommst du ganz von alleine in einen solchen Zustand, ohne dass du es wirklich bemerkst. Besonders gut gelingt das bei Tätigkeiten, die dir Spaß machen, die neu für dich sind oder die dich brennend interessieren.

Ikigai-Übung: Stream of Consciousness

Suche dir eine Aktivität aus, die du gerne machst. Dabei setzt du dir bewusst kein bestimmtes Ziel oder Zeitlimit. Wenn du beispielsweise gerne Texte schreibst, lass die Worte einfach fließen, solange wie es geht.

Eventuell hilft dir vorab eine kleine Meditation, um deinen Kopf von Erwartungen und anderen Gedanken zu befreien. Wenn du soweit bist, versuche dich auf die Details zu fokussieren. Dazu gehört z. B. das Geräusch deines Stifts, wenn er über das Blatt gleitet oder wie sich das Papier anfühlt.

Beim Stream of Consciousness (dt. Gedankenstrom) geht es nicht darum, etwas perfekt zu tun oder die eigene Arbeit in irgendeiner Form zu bewerten. Es geht darum, das Gefühl bei der Tätigkeit in diesem Moment zu genießen. Wenn du bemerkst, dass du nicht mehr so viel Spaß daran hast oder du nicht mehr voll dabei bist, schließe die Übung ab.

Nimm dir danach einen Moment zur Reflexion. Frage dich, wie du dich währenddessen gefühlt hast und behalte dieses Gefühl noch ein Weilchen bei dir.

Ikigai-Übung: Richtiges Zuhören

Es klingt so einfach; Höre aktiv zu, wenn jemand mit dir spricht. Versuche, wirklich bei deinem Gegenüber zu bleiben und dich nicht von eigenen Gedanken oder der Umgebung ablenken zu lassen. Signalisiere durch Blickkontakt, Nicken und Lächeln, dass du wirklich zuhörst und verstehst. Behalte deine eigenen Meinungen, Erfahrungen und Geschichten erst mal für dich und biete sie an, wenn dein Gegenüber zu Ende gesprochen hat.

Du wirst merken, dass es gar nicht so einfach ist, sich zurückzuhalten und nicht schon drei Schritte weiter zu denken. Das macht diese Aufgabe zu einer guten Übung, um wirklich im Hier und Jetzt anzukommen.

Fazit

Die fünf Ikigai-Säulen bieten dir einfach umzusetzende und tiefgründige Ideen, um dein persönliches Ikigai zu finden und deinem (täglichen) Leben mehr Sinnerleben zu schenken. Dadurch steigt dein Wohlbefinden und deine mentale Gesundheit7.

Das Ziel der fünf Säulen sind keine großen, komplizierten Lebensveränderungen. Ikigai bedeutet, jeden Tag aufs Neue achtsam mit dir selbst und mit deiner Umgebung umzugehen. 

Im nächsten Blogpost wird es übrigens eine komplette Buch-Review von Ken Logis „Ikigai – Die japanische Lebenskunst“ geben.

Entdecke dein Ikigai mit mir!

Wenn du dein Leben gesünder gestalten möchtest, alte Gewohnheiten ablegen und Platz machen möchtest für das, was wirklich zählt, schreib mich an.

Lehre das echte Ikigai!

Du arbeitest in einem beratenden Beruf? Lerne mehr über die Hintergründe und Anwendungen von Ikigai in meinen Workshops oder lass dich zum Ikigai-Coach weiterbilden.

Kontakt: info [at] katharina-stenger.de

Links & Quellen

Fotos: via Pexels by Tatiana Syrikova, Kuremo Photos, Joan Germaine, Oliver Dietze

Ken Mogi – Ikigai die japanische Lebenskunst: https://www.perlentaucher.de/buch/ken-mogi/ikigai.html

  1. Der Begriff „Ikigai-Quelle“ bezieht sich auf Mieko Kamiyas Beobachtung, dass Ikigai sowohl ein Gefühl sein kann (Ikigai-kan) also auch ein Objekt/eine Person/eine Aktivität/eine Erinnerung (Ikigai-Quelle), die das Gefühl hervorruft.
    Kamiya, M. (1966). Ikigai ni tsuite (About ikigai). Tokyo, Japan: Misuzu-shobo, 13, 15-17.

    ↩︎
  2.  Bei dem Begriff der „Perfektion“ geht es nicht darum, ein unrealistisches Ideal zu erreichen. Es geht beim japanischen „Kodawari“ darum, eine Tätigkeit mit dem Motiv der Perfektion auszuüben, gleichzeitig mit Liebe zum Detail und dem Wissen, dass es die ultimative Perfektion nicht gibt.

    ↩︎
  3. Lies mehr über Arugamama hier: https://www.thirtythousanddays.org/2014/09/the-four-skills-of-japanese-psychology/ ↩︎
  4. Tsunetsugu, Y., Park, B. J., & Miyazaki, Y. (2010). Trends in research related to “Shinrin-yoku”(taking in the forest atmosphere or forest bathing) in Japan. Environmental health and preventive medicine15, 27-37. ↩︎
  5. Baselmans, B. M., & Bartels, M. (2018). A genetic perspective on the relationship between eudaimonic–and hedonic well-being. Scientific reports8(1), 14610https://www.nature.com/articles/s41598-018-32638-1. ↩︎
  6. Kuhl, R. „Alles gut!“–Wenn Positivität toxisch wird. ↩︎
  7. Kotera, Y., Kaluzeviciute, G., Garip, G., McEwan, K., & Chamberlain, K. (2021). Health benefits of Ikigai: a review of literature.

    ↩︎